Im Dezember 2017 entdeckt der 14-jährige Mihajlo ein Hubbel unter seinem linken Knie. Als das Schienbein anfängt zu schmerzen, geht er erst zum Hausarzt, dann zum Orthopäden. Viele Untersuchungen später erhält die Familie im Sommer 2018 die Diagnose in der Uniklinik Köln: Knochenkrebs.
Es folgen mehrere Operationen und Chemotherapie auf der Kinderkrebsstation. Ende 2019 hat Mihajlo den Krebs besiegt, sitzt jedoch zunächst im Rollstuhl, da sein Bein schlecht abheilt und er viele Schmerzen hat. Nach einer Zweitmeinung durch die Orthopädie der Uniklinik Essen wird das Bein des 16jährigen amputiert. Der inzwischen 17-jährige erhält vom Oberschenkel ab eine Beinprothese und lernt wieder zu laufen.
Nach zwei Jahren Unterbrechung kann Mihajlo, der bei seiner Mutter in Köln lebt, zurück in seine Realschul-Klasse. Heute besucht er dort die 10. Klasse. Nach seinem Abschluss möchte er aufs Gymnasium wechseln, um sein Abitur zu machen. Momentan könnte er sich vorstellen, später in der medizinischen Forschung zu arbeiten.
2020 dreht der Dokumentarfilmer Phillip Lutz einen 20-minütigen Film mit ihm: Einen – Moment mit Mihajlo
Im Interview mit dem Förderverein erzählt Mihajlo von seinen Erfahrungen:
Mihajlo, wenn man dir im Film zuhört, merkt man schnell: Du bist nicht wie andere Teenager. Du sprichst sogar von Dankbarkeit im Zusammenhang mit deiner Krebserkrankung!
Ja, ich bin dankbar für mein Leben. Und ich bin dankbar für die Unterstützung, die auch dazu geführt hat, dass ich gesund werden konnte. Mit meiner Diagnose hat sich mein Leben so sehr verändert; auch zum Positiven. Dafür bin ich auch dankbar.
Das war nicht immer so. Als die Therapie zu Ende ging und ich im Rollstuhl saß, wurde mir langsam klar, dass ich vieles, was zum Beispiel meine Schulfreunde machen, für mich nie mehr möglich sein wird. Irgendwann habe ich mir selbst klar gemacht: Ich muss nicht alles tun, was andere Jugendliche tun. Ich gehe meinen eigenen Weg und mache meine eigenen Erfahrungen.
Wie kam es zu diesem Umdenken?
Die Amputation meines Beines war ein Riesenschritt für mich. Endlich wusste ich, dass es für mich nach der Krebserkrankung weitergeht. Davor hatte ich 2 Jahre im Rollstuhl gesessen mit einem Bein, das überhaupt nicht gesund war. Ich fühlte mich planlos und hatte keine Lust mehr auf irgendwas. Durch die Amputation und Beinprothese hatte ich plötzlich ein neues Ziel: Laufen lernen. Ich habe daraus eine neue Motivation gewonnen, ich wollte unbedingt wieder selbstständig werden!
Selbstständigkeit und die Ablösung von den Eltern ist ja für Jugendliche wichtig. Im Krankenhaus stellen wir uns das aber sehr schwierig vor, da besteht wenig Möglichkeit zur Abgrenzung. Wie war das bei dir?
Das war ein ständiges Thema bei uns. In der Regel kam meine Mutter morgens und blieb bis abends. Ich hatte aber oft keine Lust auf Eltern und war dann ganz schön genervt. Manchmal kam sie deswegen nur kurz mittags. Insgesamt hat es mich sehr gestresst, dass ich viele Sachen nicht alleine machen konnte: Ich brauchte Hilfe, aber ich wollte keine Hilfe haben! Deswegen habe ich mit meiner Mutter gestritten.
Manchmal dachte ich, ich wäre der Einzige, der das Problem mit seinen Eltern hat. Dann habe ich aber gesehen, dass es den meisten Jugendlichen auf Station so geht. Es ist wahrscheinlich ganz gut, dass man das hier [in der Fledermaus] mal erwähnt.
Wie ist heute das Verhältnis zu deiner Mutter?
Ich wohne ja bei meiner Mutter. Seit ich wieder laufen kann, hat sich die Sache schon verbessert. Wir kommen mittlerweile gut klar. Wenn ich aber zum Beispiel zum Nachsorge-Termin muss, reagieren wir unterschiedlich. Ich habe gar keine Angst – meine Mutter ist dagegen sehr, sehr ängstlich. Das stresst mich natürlich. Ich will nicht, dass sie sich Sorgen macht.
Nach der Therapie ging es für dich zurück in deine alte Klasse. Musstest du nicht nach 2 Jahren Fehlzeit die Klassenstufe wiederholen?
Ich habe das Glück, dass meine Schule mich sehr unterstützt, damals wie heute. Ich war außerdem selber schon immer motiviert für die Schule zu lernen und gute Noten zu schreiben.
Ich hatte, während ich in der Klinik war, Unterricht in der Schule für Kranke. Zuhause hatte ich dann 6 Stunden in der Woche sogenannten Hausunterricht: In der Zeit hat meine Lehrerin mit mir die Hauptfächer durchgenommen. Meine Lehrerin hat mich aber darüber hinaus auch jede Woche – auf ehrenamtlicher Basis – im Krankenhaus besucht. Und sie hat mit mir nicht nur den Schulstoff gelernt. Sie hat mir auch erzählt, was in der Schule so los ist.
Meine Lehrerin hat sich auch darum gekümmert, dass ich einen Nachteilsausgleich bekomme. Sie hat sich dafür eingesetzt, dass mein Klassenraum jetzt im Erdgeschoss liegt, weil ich schlecht Treppen laufen kann.
Mit dieser Unterstützung habe ich es trotz Chemotherapie geschafft, versetzt zu werden.
Im letzten Halbjahr hatte ich sogar eines der besten Zeugnisse des Jahrgangs.
Klingt so, als ob du nicht mit Nebenwirkungen aus der Therapie kämpfen müsstest…
Doch, das ist ein Riesenproblem, deswegen bin ich froh, dass ich den Nachteilsausgleich habe. Vor allem am Anfang hat mein Kurzzeitgedächtnis sehr gelitten. Es kam vor, dass ich im Klassenzimmer saß und mich nicht daran erinnern konnte, was ich den Tag davor gelernt hatte. Ich musste das dann nochmal lernen.
Bis heute habe ich Konzentrationsschwierigkeiten. Da kommt mir der momentane Online-Unterricht sehr entgegen. Ich kann mich schlecht konzentrieren, wenn viele Mitschüler um mich herum sind. Ich habe manchmal Schwierigkeiten, Geräusche um mich herum auszublenden.
Apropos Mitschüler, wie sind diese mit deiner Situation umgegangen?
Verrückterweise haben viele Mitschüler gedacht, dass ich einen Vorteil durch meine Erkrankung habe, aufgrund des Nachteilsausgleich oder weil die Lehrer mit mir Mitleid haben. Da gab es am Anfang schon viele Missverständnisse. Der Übergang in den normalen Schulalltag war am Anfang anstrengend.
Zu Beginn ist der Ablauf eines ganzen Schultags für viele, die aus der Therapie kommen, der schwierigste Teil. Man selbst macht sich manchmal zu viele Gedanken was andere Mitschüler über einen denken.
Am Anfang scheint einem alles komisch. Egal ob Mitschüler oder Lehrer, man hat das Gefühl, dass jeder auf der Schule dich kennt. Leider gibt es auch einige Schüler, die negativ über andere Schüler reden – gerade wenn dieser Schüler etwas anders aussieht als alle Anderen. Doch ich finde, wenn man so einen harten Kampf hinter sich gelassen hat, hat man keine andere Wahl, als dies zu ignorieren und immer sein eigenes Ziel vor Augen zu haben!
Hat sich mit der Erkrankung dein Freundeskreis verändert?
Als ich im Krankenhaus war, waren gerade viele Jugendliche auf Station. Wir waren eine Art Clique und haben im Krankenhaus viel zusammen gemacht. Der Kontakt ist immer noch da, auch wenn wir alle inzwischen mit der Therapie fertig sind. Über vieles, was ich erlebe, kann ich nur mit ihnen sprechen. Weil sie die gleichen Erfahrungen haben.
Aber wir reden nicht nur über Krebs. Man hat sich zwar im Krankenhaus kennengelernt, aber daraus sind dann echte Freundschaften entstanden. In der Schule hatte ich auch viele Freunde, mit denen ich aber nur dort zu tun hatte. Das habe ich gemerkt, als ich nicht mehr zur Schule gehen konnte. Meine Freundschaften mit anderen Krebspatienten gehen manchmal tiefer.
Das Interview führten Barbara Boßhammer und Marie Wolf